Der Weg ist das Ziel – diese Weisheit klingt nach Entscheidungsschwäche.
Oder nach Tiefsinn, je nach Standpunkt. Für einen beachtlichen Teil des modernen Tourismus, erst recht aber für seine historischen Vorgänger hat dieser Satz allerdings eine ganz andere Bedeutung: Es gibt Wege, die eine derart lange und abwechslungsreiche Geschichte haben, dass sie selbst verlockender wirken als ihre jeweiligen Ausgangs- und Zielpunkte. Es gibt zusätzlich Reiseformen, bei denen der Transportweg das eigentliche Ereignis darstellt. Weil der ‚GrundSatz‘ so in Mode gekommen ist, nehmen auch die Reisen auf besonderen Wegen an Beliebtheit zu. Der Weg ist das Ziel: Das hat, wenn auch im übertragenen Sinne, durchaus auch mit Mode zu tun. Mit jener Mode nämlich, die man gern den Zeitgeist nennt.
Unfassbar beinahe, wie sich in den zurückliegenden 30 Jahren der Andrang auf ein Netz von Wegen entwickelt hat, das von zahllosen Stellen Europas ausgeht und am Ende immer am gleichen Ziel landet: im spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela und damit am Grab des Apostels Jakobus des Älteren. Der Jakobsweg war ursprünglich die mit über 1.000 Jahren älteste bekannte Pilgerstraße in Europa, Ziel jener wenigen Frommen, die sich von den Modeströmungen der Welt abgewandt hatten und die in der Entbehrung, der Einfachheit und zugleich in der Begegnung mit der Einsamkeit der Natur, sich selbst und ihren Weg zum Glauben neu zu finden suchten. Was als stille Einkehr begann, ist inzwischen ein ganz eigener Markt auf dem Sektor des Reisens geworden.
Nun, ganz aktuell, gibt es sogar einen brandneuen deutschen Abschnitt des Jakobsweges. Am 8. Mai wurde in der Wallfahrtsstadt Telgte vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe ganz offiziell die fünfte und letzte westfälische Etappe des Jakobsweges eröffnet – wie bei allen historischen Vorbildern handelt es sich auch hier um einen traditionellen Handelsweg. Die frommen Vorgänger des heutigen Tourismus nutzten die Infrastruktur der Handelswege mit ihren Marktplätzen, Herbergen und Gasthäusern. In diesem Fall war es die Infrastruktur der alten Fernhandelsroute von Bielefeld über Münster bis Wesel. Deren Strecke trägt nun die Schilder des Jakobsweges – und natürlich soll sie als neuer Magnet wirken, um Touristen auch in diese Region anzuziehen.
Deutlich mehr als 2.000 Jahre hat jener andere Fernhandelsweg auf dem Buckel, den Spezialveranstalter längst ebenfalls zum Mittelpunkt neuer Reiseangebote erkoren haben. Es ist die Seidenstraße, eigentlich ein ganzes Netz von Karawanenwegen. Sie führten von den Handelshäfen des östlichen Mittelmeeres bis tief ins Zentrum des ‚Reiches der Mitte‘: Gut 7.000 Kilometer, von Istanbul oder Alexandria über Teheran und alte Handelsmetropolen wie Samarkand oder Buchara. Von 115 vor bis ins 13. Jahrhundert nach Christus dauerte die Hochkonjunktur auf dieser Handelsroute. Neben Seide und Gold, Gewürzen, Glas und Edelsteinen erreichten auf dieser Strecke chinesische Erfindungen wie das Schwarzpulver neue Kundschaft im europäischen Westen.
Andersherum ging das Christentum über die Seidenstraße auf Erweckungstour nach China, und auch der Buddhismus wäre ohne die Infrastruktur des Handelsweges niemals wichtig geworden für die Kultur Chinas und Japans. Heute wird die Seidenstraße als Etappenreise angeboten: als Armenien-, Iran- oder Usbekistan-Reise samt dem sagenhaften Samarkand und natürlich in Form vieler China-Entdeckertouren.
Noch relativ jung und dennoch schon sagenumwoben geht es im ‚Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘ zu. Dort in den USA wurde 1926 die längst legendäre Route 66 eröffnet, eine der ersten durchgehend asphaltieren Straßen vom Osten in den Westen des Kontinents, von Chicago bis Santa Monica in Kalifornien. Von den ursprünglich 3.939,67 Kilometern existieren heute lediglich noch einige Abschnitte, weil der explodierende Autoverkehr mehrspurige Highways verlangte. Aber die Reste der Route 66 sind berühmte Kultstätten, vor allem für Motorrad-Touristen. Den Weg der Straße in die Köpfe und Herzen der reiselustigen Welt ebneten Bücher wie John Steinbecks ‚Früchte des Zorns‘, TV-Klassiker wie die Serie ‚Route 66‘ oder der Kinohit ‚Easy Rider‘.
Etappen der Route wie die bei Flagstaff am Grand Canyon oder die Strecke Seligman-Kingman in Arizona sind Dauerbrenner des Nostalgie-Tourismus. Sogar Modeerscheinungen mit Langzeitfolgen wurden entlang der Route 66 begründet: das erste USMotel etwa in Holbrook, Arizona. Oder das erste Schnellrestaurant der McDonalds-Kette in San Bernardino. Beide gehören heute fast wie Denkmäler der schnellen, neuen Zeit zu den Attraktionen an der Straße, bei der ebenfalls der Weg das Ziel geworden ist.
Peter Lamprecht
LINKS
www.jakobsweg.de
www.abenteuer-seidenstraße.de
www.route66tour.de