Das Bild stammt aus dem Alten Testament. Es hat sich tief eingeprägt in unser kulturelles Langzeitgedächtnis: Eine Taube, Sinnbild des Friedens, trägt einen Olivenzweig auf die Arche Noah zu den Überlebenden einer Urkatastrophe. Der Zweig symbolisiert neues Leben. Einfach nur eine alte Geschichte? Auf der griechischen Insel Kreta führen die Menschen das überdurchschnittliche Lebensalter der Einwohner bis heute auch auf die heilende Kraft zurück, die aus der Olive und aus Olivenöl erwächst. Ärzte und Heiler weltweit stoßen ins gleiche Horn.

Kreta gilt als mögliche Urheimat jener Pflanze, die seit 4.000 Jahren von dort aus einen Siegeszug zuerst rund ums Mittelmeer angetreten hat. Wohin sie erst die Seemacht der Phönizier und danach arabische Händler exportiert hatten, dort beginnt in diesen Wochen bei immer noch milden Temperaturen wie alljährlich die Olivenernte – ein nahezu archaischer Vorgang, der fast überall längst auch Touristen offen steht. Ihr Urbano Magazin nimmt Sie mit auf eine Rundreise durch Olivenhaine im südlichen Europa.

Griechenland

Zuerst also Kreta, wo geschätzt 20 Millionen Olivenbäume, sprich 30 pro Kopf der Inselbevölkerung wachsen: Ob in den weiten Ebenen, ob in mittleren Höhen bis 600 Meter – überall trifft man jetzt Menschen, die mit langen Stöcken oder hölzernen Rechen die Olivenfrüchte aus den Zweigen schlagen. Unterstützung der Touristen wird gern angenommen. Netze am Boden helfen, die Ernte zu sammeln, die in Säcken zur Ölmühle im nächsten Ort transportiert wird. Lediglich die Mahlwerke und Pressen dort stammen aus heutiger Technik, wo hygienischere und funktionstüchtigere Materialien die alten Mahlsteine abgelöst haben. Die immerhin kann man aber noch in fast jedem Ort, bei jeder Mühle besichtigen.

Bis Ende Dezember ist auf Kreta die Koroneiki-Olive an der Reihe, danach bis zum Frühjahr die Tsounato-Olive. In den Ölmühlen werden die grünen oder schwarzen Früchte gewaschen, zerkleinert, gemahlen und gepresst. Das so gewonnene ’native‘ Olivenöl ist Herzstück der mediterranen Küche – ob es von Kreta kommt, vom Peloponnes oder der Insel Chalkidiki, ob aus Italien, Spanien oder Kroatien. Auch der Weg vom Olivenbaum bis in die Presse sieht überall bis auf Details gleich aus wie auf Kreta. Griechenland ist insgesamt die dritte Kraft auf Europas Oliven-Markt. Platz zwei hält Italien, Tabellenführer ist und bleibt Spanien.

Spanien

Die Spanier waren auch die ersten unter den Wettbewerbern, die im weltgrößten Olivenanbaugebiet den Tourismus ins Geschäft mit der historischen Wunderfrucht einbezogen haben. Das geschah in Andalusien, in der Region Jaén. Hier ist es üblich geworden, die Touristen nicht nur zur Ernte einzuladen. Sie dürfen auch ihr eigenes ‚flüssiges Gold‘ abfüllen und als Souvenir mit nach Hause nehmen. Die Andalusier weisen inzwischen eigene ‚Olivenstraßen‘ aus, an deren Rändern Bauern Probeportionen ihres Öls anbieten. Eine besonders beliebe Route führt über die Weltkulturerbe-Städte Úbeda und Baeza nach Jimena und Jódar im andalusischen Hinterland. Hier gibt es prächtige Burgen und Kathedralen aus der Zeit der Renaissance, da die maurischen Besatzer vor König Ferdinand III zurückwichen.

‚Oliventouristen‘ zieht es aber vor allem in die Hacienda La Laguna bei Baeza. Auf 6.000 Quadratmetern wird hier im Museum die
Herstellung des Olivenöls gezeigt, zu sehen sind Mühlen aus mehreren Jahrhunderten. Highlight ist ein riesiges, 1846 erbautes
Öllager mit Bögen, Wendeltreppen und Gewölben, die ihm zum Namen ‚Kathedrale des Olivenöls‘ verholfen haben.

Italien & Kroatien

Während die Produktion in Spanien wesentlich auf Andalusien konzentriert bleibt (obwohl Oliven auch anderswo geerntet werden), finden interessierte Touristen in Italien eine große Vielfalt an Olivenhainen und Ölmühlen. So etwa in Ligurien bei Leivi, Lavagna und Sestri, in Umbrien, in der Toskana, auf Sizilien und in Apulien, wo die meisten Betriebe zu Hause sind. Kleinere Olivenhaine und Verarbeitungsbetriebe finden sich zudem am Gardasee, wo bei Lazise auch ein Olivenmuseum auf Besucher wartet.

Kein Wunder also, dass die traditionsreiche Olivenproduktion und der moderne Tourismus gleich am Italien gegenüber liegenden Ufer der Adria ebenfalls kräftig gepflegt werden. Schließlich ist diese Region auch sonst geprägt durch vielfältige Hinterlassenschaften aus der großen Zeit der venezianischen Herrschaft. Auch die Kroaten bestehen darauf, eines der besten Olivenöle der Welt zu produzieren. Die Obstbauern, berühmt für ihre Gastfreundschaft, lassen sich gern über die Schultern sehen und helfende Hände sind in diesen Erntemonaten ebenso willkommen wie in den Nachbarländern.

400 Küstenkilometer der Halbinsel Istrien markieren die wichtigste Olivenregion Kroatiens, einen Landstrich mit prächtig grüner Natur, zerklüfteten Felsküsten und verlockenden Badebuchten, mit Städten und Dörfern wie aus dem venezianischen Bilderbuch. Und mittendrin auch hier die Olivenstraße, die Nord und Süd verbindet und an deren Rändern nicht nur Olivenhaine und -mühlen zu entdecken sind, sondern auch kulinarische Höhepunkte. Die Olive und ihr wertvollstes Produkt sind immer dabei. In Andalusien, am Gardasee, auf Kreta oder sonst wo: In jedem Restaurant gehört das native Olivenöl zum guten Ton, heute wie vor 4.000 Jahren. Aber, dass Gäste auf ihren Reisen sogar mithelfen, die Oliven zu ernten – das ist wirklich neu …

Peter Lamprecht