Als die große griechische Sängerin Melina Mercouri in ihrer Funktion als Kulturministerin 1985 die Institution europäischer Kulturstädte ins Gespräch brachte, da waren politische Visionen noch hoch im Kurs. Ihre Vision wurde umgesetzt. Seit 1999 sind daraus jeweils zwei Kulturhauptstädte für je ein Jahr geworden. Gerade die beiden Kulturhauptstädte Europas 2019 stehen einerseits jede für sich für die Jahrtausende zurückreichende kulturelle Geschichte der Menschen in Europa. Sie stehen andererseits allerdings auch beispielhaft für den Widerspruch, der immer häufiger in Europa zwischen hohem Anspruch und karger politischer Realität zu entdecken bleibt.

Die Rede ist von Matera in Süditalien und Plowdiw in Bulgarien, zwei Städten an den südlichen Rändern Europas. Selbst jetzt, an der Schwelle zum neuen Kulturhauptstadtjahr, ist noch nicht in allen Einzelheiten kommuniziert, welche Programmattraktionen beide Städte konkret für 2019 eingeplant haben. Natürlich geht es um Kunst, natürlich gibt es große Konzertevents und Theateraufführungen. Zudem gehört auch diesmal der Blick zurück auf die kulturellen Wurzeln zur Basis des Geschehens. Und da haben beide Städte viel zu bieten.

Plowdiw zum Beispiel, mit 343.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Bulgariens und in der Mitte des Landes gelegen, ist erkennbar ein Schmelztiegel römischer, byzantinischer, osmanischer und jüngerer europäischer Kultur. Ein römisches Amphitheater gehört zu den Sehenswürdigkeiten. Die ältesten Zeugnisse der Menschen reichen hier sechs Jahrtausende zurück. Man kann sich zudem mit dem Ehrentitel ‚Schönste Altstadt
Bulgariens‘ schmücken.

Matera, zwischen Neapel und Bari gelegen, 60.000 Einwohner stark und ähnlich wie Plowdiw gut sechstausend Jahre alt, gilt inzwischen als völlig unvergänglich. Und zwar, seit seine graue politische Vergangenheit aus der Zeit des Faschismus im Roman ‚Christus kam nur bis Eboli‘ von Carlo Levi unsterblich gemacht wurde. Damals, vor 70 Jahren, wurde die Stadt auch als ‚Schande Italiens‘ bezeichnet. Nun aber geht es spürbar aufwärts, seit Materas ‚Sassi‘, die berühmten steinernen Höhlen aus der Vorzeit, 1993 zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben wurden.

Dort waren in der Zeit der Schande politische Häftlinge untergebracht. Davor wurden die Höhlen seit dem Altertum als Wohnbehausungen genutzt. Heute aber beherbergen die Sassi Cafés, Restaurants und sogar ein beliebtes Luxushotel, das ‚Corte San Pietro‘. Die einzigartige Atmosphäre rund um diese Höhlen im Flusstal der Gravina lohnt allein schon die Anreise, und die Aura des Filmruhms verstärkt das Erlebnis noch. Immerhin wurde in diesen Kulissen Mel Gibsons Kinoereignis ‚Die Passion Christi‘ gedreht.

Plowdiw ist nicht zuletzt Verkehrsknotenpunkt und Industriestadt. Als 2014 verkündet wurde, dass man fünf Jahre später Kulturhauptstadt werde, wuchs in der Bürgerschaft allerdings spürbare Kreativität. Dies umso mehr, als die künstlerische Leiterin des Kulturhauptstadtprogramms dazu aufrief, selbst Projekte auszudenken und einzureichen, die zugleich soziale Probleme in der Stadt lösen könnten. Viele Ideen erreichten Svetlana Kuyumdzhieva daraufhin.

Die vielleicht verlockendste der Ideen: Umbau der alten ‚Tabakstadt‘ in der Mitte zu einem bunten, kulturellen Zentrum. Doch es fehlte an staatlicher Hilfe, um aus den privat genutzten einstigen Tabakkontoren attraktive Gebäude zu gestalten. Und inzwischen haben viele der privaten Eigentümer die teils maroden Häuser abreißen und durch neue Geschäftsbauten ersetzen lassen. Brände in der Tabakstadt haben weiteren Kahlschlag verursacht.

Plowdiw und Matera – zwei Kulturhauptstädte, die auf jeden Fall ihre Eigenheiten 2019 in Szene setzen werden. Wie derzeit fast alles im großen Europa wirken die aktuellen Kulturhauptstädte allerdings bemerkenswert fragil – ein deutlicher Kontrast zu prächtigen Vorgängern wie Berlin und Bilbao, aber auch Liverpool und Essen. Aber vielleicht bieten gerade Matera und Plowdiw die Chance, ohne glanzvolle und teure Baudenkmäler und Showevents ganz neu über Kraft und Sinn der gemeinsamen Kultur in Europa nachzudenken. Es wäre bestimmt im Sinne der großen Europäerin Melina Mercouri.

 Peter Lamprecht